Zeitungsartikel "Wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen" (StN, Eva Funke, 14.09.2004)
Wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen
Wohngefühle (8) – Christa und Dieter Weiß leben abgeschieden am Dornhaldenfriedhof
Es gibt weit und breit kein Geschäft, kein Restaurant, kaum Autos. Nicht einmal Bus oder Straßenbahn kommen vorbei. Lärm und Trubel der Stadt sind weit weg, das Vogelgezwitscher dafür umso näher. Christa und Dieter Weiß wohnen dort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, direkt am Waldrand. Ihre Adresse: Auf der Dornhalde 1 – gegenüber dem Dornhaldenfriedhof. Abgeschiedener kann man in Stuttgart kaum wohnen.
Vor 34 Jahren ist Christa Weiß mit ihrem Mann Dieter in das denkmalgeschützte Gebäude gezogen. Erbaut wurde das Fachwerkhaus, das in keine Stilrichtung so recht passen will, 1893. Das erste Mal betrat Dieter Weiß sein Heim bereits Jahre zuvor – und bestellte sich in seinem heutigen Wohnzimmer erst mal ein Bier. Denn das leuchtend rote Backsteinhaus mit den grünen Fensterläden war einst beliebtes Ausflugslokal für Spaziergänger aus Degerloch und Heslach. Der Friedhof wurde sehr viel später angelegt, das Gelände lange Zeit als Schießbahn genutzt. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg übten Soldaten auf der militärischen Anlage ihre Treffsicherheit.
Auf einer alten Postkarte, die der Hausherr auf einem Flohmarkt aufgestöbert hat, ist dieser Abschnitt in der Geschichte seines Zuhauses festgehalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg absolvierten die Amerikaner dort Schießübungen. Dann kaufte die Stadt Gelände samt Gasthaus vom Bund und legte dort Anfang der 70er Jahre den Dornhaldenfriedhof an.
„Das Gebäude war verwahrlost, das Grundstück verwildert. Keiner wollte hierher ziehen“, erinnert sich Weiß. Der 63-Jährige arbeitete beim Garten- und Friedhofsamt als Baggerfahrer. Als ihm das Haus als Unterkunft angeboten wurde, nahm er sofort an. Denn als gelernter Landschaftsgärtner hatte er im Kopf bereits das Bild eines Paradieses gemalt. Weiß: „Ich konnte mir sehr gut vorstellen, was ich aus dem Anwesen machen könnte.“
Bald gab es Hunde und Hühner im Garten. Und es wuchsen nicht mehr nur Bäume, sondern es blühten auch Blumen rund ums Haus. Ein Karussell, Schaukel und Wippe wurden aufgebaut. Die beiden Söhne und die Tochter brachten oft ihre Freunde mit nach Hause. Die Kinder konnten draußen toben, ohne dass sich Nachbarn beschwerten. Wenn es Zeit war, nach Hause zu kommen, läutete der Vater per Seilzug die Glocke auf dem Dach. Die Familie störte niemanden, und sie wurde nicht gestört. Bis zum Herbst 1977: Da postierten sich Kamerateams im Obergeschoss. Hunderte Polizisten sicherten das Gelände, Hubschrauber kreisten. Trotz massiver Proteste wurden am 27. Oktober Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe auf dem Dornhaldenfriedhof bestattet. Weiß selbst hatte das Gemeinschaftsgrab für die Terroristen mit seinem Bagger ausgehoben. „In dieser Zeit hatten wir ein sehr mulmiges Gefühl“, erinnert sich seine Frau an diesen Herbst.
Wenn sie nach Sillenbuch zum Einkaufen fährt, wird sie oft gefragt, ob es ihr da draußen nicht zu einsam sei. Früher, als die Kinder im Haus waren, war Einsamkeit kein Thema. „Da war immer was los. Ich hatte ständig was zu tun.“ Obwohl die Zeiger auf der Turmuhr am Weißschen Heim seit Einzug der Familie auf beiden Zifferblättern jeweils die gleichen Stunden anzeigen, und zwar 9.10 und 16.40 Uhr, ist die Zeit nicht stehen geblieben. Die Kinder sind aus dem Haus, Christa und Dieter Weiß in Rente.
„Man muss ein bisschen aufpassen, dass man nicht in die Einsamkeit plumpst“, gesteht Christa Weiß. In die Stadt möchten sie und ihr Mann jedoch nicht ziehen. Denn nirgendwo ließen sich die Natur und der Wechsel der Jahreszeiten so intensiv erleben: die Verfärbung der Blätter im Herbst, die Durchsichtigkeit des Waldes im Winter und die vielen Grüntöne, die der Frühling in die Bäume zaubert. „Als wir hier eingezogen sind, wusste ich, dass wir bleiben“, sagt Dieter Weiß. Und seine Frau ergänzt: „Aber ich bleib‘ nur mit dir hier. Allein wär‘ es mir doch zu weit weg von der Welt.“
(Quelle: Stuttgarter Nachrichten, Eva Funke, 14.09.2004)